Ich bin in zwei Sekten gleichzeitig eingetreten – #2: Rosenkreuzer
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Ich bin in zwei Sekten gleichzeitig eingetreten – #2: Rosenkreuzer

Am nächsten Tag wurde ich ein Rosenkreuzer. Das gefiel mir schon sehr viel besser. Scheiß auf Scientology—das ist alles nur Psycho-Gerede. Die Rose und das Kreuz—Liebe und Schmerz, die Essenzen im Leben eines wahren Romantikers. Das ist schon eher mein Stil. Ich werde wahrscheinlich schwarze Lederhosen tragen müssen und vielleicht kann ich auch meinen Arm aufschneiden und mit meinem Blut was schreiben oder so. Das wird Rock’n’Roll. Diesmal werde ich bestimmt eine ins Bett kriegen. Da sind bestimmt viele Goths dabei. Jeder weiß doch, was man so von den Gothic-Mädels hört. Diese nihilistische Lebenseinstellung macht sie verdammt triebhaft. Das weiß ich genau. Je zynischer und verdorbener sie sind, desto besser—das kann man eigentlich pauschal sagen. Ich meine, die richtig verrückten Mädels schließen sich vielleicht eher der Kirche Satans an, aber dennoch muss ich nur meine Karten richtig ausspielen und ein guter Fick wird mir sicher sein.

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Erstmal die Ergebnisse meiner Recherchen: Die Rosenkreuzer sind ein neoplatonisch-christlicher Orden aus dem 17. Jahrhundert. Sie wurden von Holländern gegründet. Jawohl. Das klingt schon mal sehr gut. Die Holländer sind sehr liberale Menschen, habe ich gelesen. Sie lassen sich manchmal gehen, sagt man. Die Rosenkreuzer bezeichnen sich als Geistesschule, die eine uralte Botschaft übertragen will. „Es ist die Kernbotschaft, die allen großen Religionen zugrunde liegt“, steht in ihrem Einführungsheftchen. Bei der Internationalen Schule des Goldenen Rosenkreuzes lernt man diese Kernbotschaft an zwölf Abenden, und man braucht gar nicht so viele Hausaufgaben machen. Das hat auch genervt bei den Scientologen—diese vielen Bücher, und dann mußte man noch dauernd Aufsätze und Listen schreiben. Rosenkreuzer suchen und lieben die abstrakte, spirituelle Schönheit der Dinge. Sie sind auf der Suche nach den Kern der Göttlichkeit oder Gottes selbst, den jeder in sich trägt, und wenn sie ihn aufgespürt haben, glauben sie, die Lösung auf das Dilemma des Zustands der Menschen gefunden zu haben. Dieser Kern ist ein bisschen wie eine Rosenknospe. Und wenn du deine Knospe gefunden hast, kannst du nach Hause gehen oder ins Kino, oder du kannst im Park spazieren und Obst essen oder so was.

Hier ist dein Dilemma: Der Mensch ist in einer Welt gefangen, in der Materialismus und Oberflächlichkeit triumphieren, und weil sein spiritueller Kern so eingezwängt und erstickt wird, geht er (oder sie) unschlüssig, schwach und orientierungslos durchs Leben. Rosenkreuzer reden gerne viel über „Schnittpunkte“ und „Umbrüche“ in der heutigen Welt. Wenn man ihnen zu lange zuhört, hat man das Gefühl, dass die Welt demnächst in die Apokalypse gerät. Das ist natürlich gut zu wissen, wenn man eine Rosenkreuzerin rumkriegen will. „Überall zerbrechen überkommene Strukturen. Traditionen, Sitten und Gebräuche lösen sich auf, Werte verändern sich in rasantem Tempo und büßen ihre Geltung ein; bisherige Autoritäten verlieren ihre Bedeutung.“ Geil—da brauche ich ja keine weiteren Argumente, um diese verlorenen Mädels zu erobern—es steht alles schon dort. Viele Leute suchen nach etwas, das ihrem Leben eine Bedeutung und Richtung verleiht, und die Rosenkreuzer, die nebenbei bemerkt ausschließlich durch Stiftungen finanziert werden und daher keine Gebühren verlangen, sind da, um dir einen Weg anzubieten. Außerdem sind sie Vegetarier. Na also. Wo muss ich hin? Wo kann ich unterschreiben? Ich will jemandes Kern finden. Mein eigener kann erstmal warten. Der ist mir egal.

Zwei Rosenkreuzer hielten an diesem Abend einen Vortrag in meinem Viertel. Der Anfang eines zwölfteiligen Kurses, der mich auf den Weg zu größerer spiritueller Selbsterkenntnis oder auf die göttliche Erde des Lebens oder in eine rosarote Dimension oder wohin auch immer bringen würde. Ich entschied mich dazu, eine schwarze Lederjacke und ein French Connection-Hemd anzuziehen, ein Pentagramm und ein Holzkreuz, und dazu Chanel Allure Homme Sport.

Am Eingang verlangte niemand Geld, und ich erhielt ein Informationsblatt und ein kleines Buch. Ich befand mich in einem komplett weißen Raum. Es fühlte sich an, als wäre ich in einem großen rechteckigen, milchigen Ei mit Fliesen. Alle saßen auf weißen Stühlen und vorne stand ein weißer Tisch. Auf dem Tisch befanden sich eine einzelne rote Rose in einer Vase und zwei Weingläser mit Wasser in symmetrischer Anordnung. Außerdem standen überall Plastikbäume. Es war eine perfekte, pure, sterilisierte Welt—wie in den Achtzigern. Ich bekam einen mittleren Ständer. Etwa zwölf Leute waren im Raum, und niemand sagte ein Wort. Einer von ihnen war ein schlafender Obdachloser. Keiner der beiden Vorleser berührte während des gesamten Abends diese Wassergläser. Es war sehr, sehr still im Raum. Diese Rosenkreuzer mögen wohl keine Stimmung. Wir waren also zwölf Anfänger, und keiner von uns schien in Begleitung gekommen zu sein. Ich fühlte das Gewicht vieler einsamer Nächte um mich herum.

Es gibt viele verschiedene Arten von Rosenkreuzern, aber sie kommen gut miteinander aus. Es ist nicht so wie bei den Sunniten und Schiiten. Da geht keiner mit einer Kalaschnikow in eine andere Vorlesung und schreit dann rum und so. Es ist eher so, dass sie alle um einen runden weißen Tisch sitzen und Wasser vor sich stehen lassen und langsam merkwürdige Sachen zueinander sagen. Sie glauben, dass Christus kein lebendiges Wesen ist, sondern ein Zustand der Seele, und sie reden ein wenig zuviel über die Mängel der modernen Welt. Am ersten Abend ging das schon mal eine halbe Stunde so. Ich hab mein Handy wieder eingeschaltet und meine SMS noch mal gelesen. Also bitte, es ist eure Welt, kommt einfach damit klar, ob ihr nun die Energie Christi in euch tragt oder nicht. Die beiden Rosenkreuzer, die vorne waren, sahen sehr puritanisch aus. Die eine war eine stille Frau im mittleren Alter mit glattem Haar und bohrendem Blick, und neben ihr war ein großer dünner Mann mit einer Dauerwelle und einer falschen Bräune. Er trug so eine schmale Brille ohne Rand, die wir Deutschen so mögen, und er sah aus, als ob er über seine Lebenssituation sinniere—und darüber, welche philosophischen Leistungen ihn in diesen weißen Raum geführt hatten. Er war definitiv der am besten gekleidete Mann dort, und das, obwohl ich meine coolsten Klamotten trug. Er stand in Kontakt mit der Rosenknospe in seinem Innern und sah aus wie ein brauner, dünner Jim Morrison mit Brille. Verdammt! Er darf bestimmt als Erster zur Frauen-Auswahl. Die beiden Vorleser hießen Adelheid und Siegmund. Hießen sie natürlich nicht, aber sagen wir einfach, sie hießen so. Hätte sein können. Aber das mit der Dauerwelle stimmt.

Der Vortrag bestand aus der Lesung eines Aufsatzes der, wie sich herausstellte, vor etwa fünfzig Jahren verfasst worden war! Was für eine verdammte Frechheit, dachte ich, konnten die sich nichts Neues ausdenken und aufschreiben? Was ist mit dem Internet? Ich hätte das genauso gut zu Hause lesen können. Zwischendurch unterbrachen Siegmund und Adelheid immer wieder ihre Lesung und sahen aus, als ob sie sich auf ihr inneres Licht konzentrierten. Diese Stille-Phasen zwischen den Absätzen wurden länger und länger. Es erschien mir wie Bedenkzeit nach den langen Sätzen, doch dann hatte plötzlich eine von uns Anfängern einen genialen Einfall. Sie stellte eine Frage. Dafür gab es die Pausen: Fragezeit! Und wir sitzen da und glauben, die beiden kommunizieren durch ihre Seelen.

„Also ich gehe durch mein Leben, und es kommt mir so vor, als ob ich einfach so dahinlebe und nichts passiert. Ich fühle so eine Art Leere in mir, sozusagen, versteht ihr?“ Das war Ingrids hohe Stimme. Sie hatte Probleme. Sie war eine gute Frau, und auch wenn sie Probleme hatte, sich auszudrücken, hielt sie das nicht davon ab, es dennoch zu versuchen. Siegmund antwortete mit einem gnomenhaften Nicken auf ihre Frage. Er war selbstbeherrscht, und er war sich seines inneren Lichts bewusst. Aber er wusste, wie Ingrid sich fühlte. Er wusste, wie jeder Einzelne sich fühlte. Er war ein Baumstamm, und wir waren die Zweige, die von ihm wuchsen, aus seinem Geist. Und das war cool.

„Ich weiß, was du meinst“, sagte Siegmund zu Ingrid. „Wir hören immer wieder sowas Ähnliches bei diesen Vorlesungen.“ Gut.

Dann mischte sich der Lothar neben mir ins Gespräch ein: „Wisst ihr, wie ich mir das vorstelle, ist es doch eine gute Art, es sich vorzustellen—wir menschlichen Wesen sind alle Zwiebeln, und jeden Tag kommt eine neue Haut dazu. Und jede Haut besteht aus einem Werbespot oder aus einem Magazin oder aus einer Fernsehshow. Wir werden größer und größer, eine Zwiebelhaut nach der anderen, und wir werden mehr und mehr von der Außenwelt abgegrenzt. Aber im Innern haben wir immer noch einen Zwiebelkern, und das sind wir. Er ist immer noch irgendwo da in mir, unter allem verborgen. Ich bin eine zu groß gewordene Zwiebel, im Garten vergraben.“ Ich starrte auf Lothar. Das war das Interessanteste, was an diesem Abend jemand gesagt hatte. Aber niemand reagierte. Siegmund nahm Anteil an seiner misslichen Lage, aber fügte nichts hinzu, vielleicht weil er es nicht so gern hatte, dass sein inneres Licht mit einer Zwiebel verglichen wurde. Aber ich konnte nachempfinden, was Lothar meinte. Eine Zwiebel ist auch eine viel besseres Metapher als eine Rosenknospe. Ich bin bei dir, Mann, ich bin auch eine zu groß gewachsene, vergrabene Zwiebel. Du und ich, Lothar, wir werden Zwiebelkreuzer, habe ich ein Moment lang gedacht.

Doch eines war sicher: Inmitten meiner inneren Krise, nachdem die Scientologen gestern gesagt hatten, dass ich so etwas wie manisch-depressiv bin und nun diese bemitleidenswerten Gestalten schüchtern ihre Seelen preisgaben, fiel mir auf, dass keine Gothic-Mädels da waren und ich auch alleine ins Bett gehen würde. Ich weiß sowieso nicht, was ein Gothic-Mädel eigentlich ist. Jedenfalls hängen sie nicht mit Rosenkreuzern ab. Die einzigen Frauen hier waren Adelheid und Ingrid, und ich würde garantiert mit keiner von ihnen irgendwo hingehen. Ingrid war zu vertieft in ihren inneren Tumulten, um mir ihre Aufmerksamkeit zu widmen, und Adelheid war verheiratet—wenn nicht mit einem Mann, dann definitiv mit ihrem Zwiebellicht.

Am Ende saßen wir alle in einem Kreis und hielten Hände. Wir haben nicht wirklich gebetet, wir haben nur unsere Hände gehalten und uns eine kommende Morgendämmerung voller Erleuchtung vorgestellt. Dann haben wir uns gegenseitig Fragen gestellt, wie wir uns so fühlen im alltäglichen Leben, und wie wir einen eigenen Weg finden müssen, die richtige innere Erkenntnis zu finden. Ich hab immer wieder versucht, den Lothar dazu zu bringen, mehr über seine Zwiebel-Idee zu sagen, aber ich glaub, er war irgendwie eingeschüchtert. Ich glaub, weil Siegmund ein cooleres Hemd anhatte. Die anderen redeten nur über ihren eigenen Probleme. Der Obdachlose schlief weiter in der Ecke. Inzwischen war ein alter Mann mit einem Bart auch eingeschlafen. Es war alles eher unbefriedigend.

Aber irgendwas ist doch mit mir passiert. Ich kann die Morgendämmerung nicht mehr erwarten. Ich habe auch die Schnauze voll von diesem ganzen Moderne-Welt-Scheiß. Ich meine, ich weiß nicht, ob es irgendeinen verdammten Unterschied macht, an böse Außerirdische zu glauben, die vor Millionen von Jahren die Erde als Genozid-Platz benutzt haben. Aber jedenfalls hätte genauso gut ein Mann auf einem fliegenden Schrank ankommen können. Doch auf der anderen Seite sind diese kleinen Religionen wirklich gute Therapiegruppen. Und ich stehe voll hinter ihnen. Ich bin nach Hause gegangen und habe mir noch einmal einen runtergeholt.


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