Eigentlich ist es eher überraschend, dass man nicht schon früher auf die Idee gekommen ist, diese beide Macho-Kriegsersatzspiele zusammenzubringen. Immerhin gibt es unübersehbare Parallelen. Bei beiden geht es um „kontrollierte Aggression,“ wie es einst Schachbox-Erfinder Lepe Rubingh sagte. Er erwähnt auch gerne, dass Schwergewicht Weltmeister Vitali Klitschko ein leidenschaftlicher Schachspieler ist.
Oder Andreas Dilschneider, Berliner Schauspieler und im Jahr 2005 immerhin fast europäischer Schachboxmeister: „Es geht bei beiden um Nehmen und Geben. Der Gegner macht einen Zug, und du musst reagieren. Und du musst immer das Ziel, den Sieg, vor den Augen haben“, sagt er.
Sogar ich, der ich nur einmal zitternd und schwitzend mit letzter Kraft einen Bauern über das Brett geschoben habe, habe eine Ähnlichkeit entdeckt: Bei Beiden ist es das taktische Ziel, das Zentrum vom Brett oder Ring zu dominieren.
Es gibt sicher eine Reihe anderer taktischer und philosophischer Ähnlichkeiten, über die man viel Interessantes schreiben könnte. Aber nach einer Stunde Boxtraining bleibt für mich nur ein einziger Unterschied übrig. Schach tut viel weniger weh.
Es war kurz nach Neun, ein niedriger Keller in einer Sporthalle in Berlin, wo die Wände nach Testosteron riechen. Viermal pro Woche trifft sich hier eine Gruppe masochistischer Männer und foltert sich. Ich saß auf dem Fußboden in einer Pfütze meines eigenen Schweißes und war in meinem ganzen Leben noch nie so froh, ein Schachbrett zu sehen. Ich liebe Schach. Am Liebsten hätte ich den Läufer wie einen Schnuller in den Mund genommen.
Boxen tut nämlich weh. Boxen tut weh, auch wenn man nicht geschlagen wird. Boxen tut im Gehirn, in den Händen und in der Leber weh. Boxen tut eine Woche später immer noch weh. Boxen tut auch in der Seele weh, weil du nicht um die Erkenntnis herumkommst, dass dein Körper so schwach und so weich ist. „Schmerz ist wenn die Schwäche dein Körper verlässt,“ sagt Frank der Trainer zwischendurch, als um mich herum Männer versuchen, einarmige Liegestützen zu trainieren.
Wie schwierig Boxen ist, habe ich gleich am ersten Abend gelernt, als ich das Laufen neu lernen musste. Während beim Aufwärmen um mich herum die Seilspringkabel schwirrten (es sind übrigens dicke, schwere Metallkabel und nicht etwa Seile), kam ein afrikanischer Schwergewichtler auf mich zu und versuchte, mir das Laufen beizubringen. Man darf nicht den hinteren Fuß vor den vorderen stellen, sondern den vorderen Fuß noch weiter nach vorne stellen, und dann das hintere Bein nachziehen. Dabei sollte man die hintere Ferse nie absetzen. Es gab nichts Humorvolles an dieser Situation. Der Afrikaner war ungeduldig. Es war für ihn offenbar überhaupt nicht lustig, dabei zuzusehen, wie sich ein dicker, 35-jähriger Amateur-Schachspieler durch seine erste Boxstunde quält. Dieser Witz war für ihn schon alt.
Mit Verzweiflung sah er mich an, wie ich meine ersten Schritte versuchte. Manchmal nahm er meine zerbrechlichen Arme und Beine in die Hand und zwang meinen unbeholfenen Körper in eine Boxstellung. Dann musste ich weiter hin und herlaufen. Ab und zu, wenn meine Hände aus der Stellung rutschten, gab er mir eine leichte Ohrfeige ins Gesicht – mein Unterkiefer wackelte – und schickte noch einen vorwurfsvollen Blick hinterher.
Das ging eine Weile so. Einmal war ich zu schnell, einmal zu langsam, einmal waren meine Beine zu weit auseinander, einmal standen sie überkreuz. Mein Lehrer blieb die ganze Zeit sehr ernst, nur sein Blick wurde immer ungeduldiger. „Du hast alles vergessen! “sagte er einmal. Aber obwohl es offenbar eine Qual für ihn war, mir das Laufen beizubringen, ging er nicht weg. Erst als ich nur noch erschöpft hin und herlief, ab und zu verzweifelte Faustschläge in die Luft machte, und es endlich vorbei war.
Am zweiten Abend gab’s endlich Schach. Der Afrikaner war nicht mehr da. Dafür aber Frank, der Polizist. Frank, sagten alle, wäre nicht so weich wie die anderen Trainer. Man munkelte, er sei gerade aus Afghanistan zurückgekommen. Ich hab mich so gefreut, dass mir nach fünf Minuten Körperübungen ein bisschen schwindelig wurde.
Die einarmigen Liegestützen konnte ich leider nur andeuten. Ich starrte den Fussboden an. Der Schweiß floss überall raus und runter. Meine Brille musste ich ablegen, weil sie mir ständig wegrutschte, und am Ende konnte ich nur noch meinen Kopf in die Schweißpfütze legen. Dann gab’s Balance- und Dehnübungen. Frank nahm seine Füße, und streckte ein Bein hinter seinen Kopf. „Ihr kleinen Steiftiere!“ rief er, als wir es ebenfalls versuchten. „Kommt jetzt Schach?“ war mein einziger Gedanke.
Schliesslich stand ich Iepe, dem Gründer des Clubs, gegenüber. Aber immer noch kein Schach. Zuerst noch ein bisschen Boxen. Iepe lächelte freundlich und schlug mir auf die Oberarme. „Da tut’s nicht weh, oder?“ Keine Ahnung, dachte ich. Nach kurzer Zeit konnte ich meine Arme nur noch unter Schmerzen anheben. Ich glaube meine Arme sind sowieso zu kurz, um mich zu beschützen.
Dann hob Iepe eine Handfläche und bat mich, hinein zu schlagen. Auf etwas mit der Faust zu schlagen ist im Übrigen nicht so einfach, wie es aussieht. Ein korrekter Boxschlag wird bei einer gleichzeitigen Drehung des Armes und des ganzen Körpers ausgeführt. Als ich in seine Handfläche reinschlug, brachte er sie schlagartig nach vorne, damit es extra knallte. Ringfinger und kleiner Finger meiner Schlaghand schmerzten.
Anscheinend sollte man die Hand immer so halten, dass man nur mit Zeige- und Mittelfinger trifft. Wieder etwas Neues gelernt. Dann wurde das Schachbrett gebracht. Ich ritt auf einer Welle der Freude. Wir legten es zwischen uns auf den Boden. Als ich mich steif hinsetzen wollte, rutschte ich plötzlich auf einer Schweißpfütze aus.
Der Schweiß war seit zwei Abenden mein ständiger Begleiter. „Du musst aufpassen, dass du nicht gleich zu aggressiv spielst,“ warnte Iepe. „Das kommt vom Adrenalinrausch nach dem Boxen.“ Das schien mir eine geringe Gefahr, denn ich konnte mich vor Erschöpfung gerade noch an den verschiedenen Startpositionen der Figuren erinnern.
Iepe und ich hatten jeweils 12 Minuten auf der Uhr, aber es war ziemlich egal, denn er schlug mich in 10 Zügen. Mir machte das nichts aus. Es war so schön, einfach nur da zu sitzen und meinen Körper nicht zu rühren. Nach einer abschließenden Runde im Ring, in der ich lernte dass man die Handschuhe nah am Kopf halten muss, sonst schlägt man sich bei der Abwehr die eigenen Hände ins Gesicht, ging eine zweite Schachpartie los.
Plötzlich saß eine junge Frau mit einem Notizblock an unserem Brett und schautezu. Eine Journalistin, die bestimmt einen viel vernünftigeren Weg gefunden hat, über Schachboxen zu schreiben. Sie hatte keine Fragen an mich. Schaute mich nur mitleidend an und verzog sich. Anscheinend erschien es ihr doch zu unmenschlich, über das Spektakel, das ich gerade bot, zu berichten.