Jörg Friedrich ist einer der couragiertesten deutschen Schriftsteller und Historiker unserer Generation. Sein mutigstes Buch kam 2002 heraus und heißt Der Brand. Es beschreibt den alliierten Bombenangriff auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg—damit ist Friedrich einer der ersten Historiker, der die Deutschen als Kriegsopfer zeigt. Ein paar nervige Linksradikale meinten damals, dass Friedrich deshalb ein Nazi sein müsse. Er behauptet, er habe nichts anderes gemacht, als die dunklen Erinnerungen von fast 30 Millionen Menschen ans Licht zu bringen.
Read it in VICE
Vice: Was ist so speziell an der deutschen Auffassung der eigenen Geschichte?
Jörg Friedrich: Deutschland hat nie etwas so Diskontinuierliches erlebt wie das Ende des Krieges. Es prägte das ganze Leben der Überlebenden. Die Erinnerung wurde zudem taktisch gebremst. Die Bombenangriffe hingegen schnitten tief in die Identität der Deutschen ein, und die Debatten um die Innenstädte und deren Wiederaufbau haben gezeigt, was für Phantomschmerzen die Deutschen hatten. Man kann es förmlich in der Architektur der deutschen Städte sehen.
Wie funktioniert kollektive Erinnerung?
Die Erinnerung ist ein Auf und Ab. Ich bin 1944 geboren. Als ich zur Schule ging, war die Erinnerung an die Vertreibung und die Bombardierung höchstlebendig und spürbar vorhanden. An der Universität erlebte ich die 68er Bewegung und da sind diese Elemente völlig untergegangen. Zu der Zeit traten die Elemente der deutschen Kriegsverbrechen und des Holocausts in den Vordergrund. Als ich zehn oder zwölf Jahre war und ins Gym-nasium ging, war der Holocaust überhaupt kein Thema. Es war klar, die Deutschen ha-ben die Juden umgebracht, aber man stellte sich da keine weiteren Fragen. Das wurde plötzlich zum Zentralthema in den Jahren 1975–1980. Die Vertreibungsverbrechen in den deutschen Gebieten hingegen interes-sierten niemanden. Weder in meiner Studien-zeit, noch später, als ich mich mit den deutschen Kriegsverbrechen auseinander-setzte. Insofern ist Erinnerung eine Wellen-bewegung. Die Eltern hatten ihre Erinne-rungen zwar ganz dicht an der Oberfläche des Gehirns, übertrugen es aber nicht auf ihre Kinder. Die Kinder fingen also an, die Hintergründe ihrer Eltern zu erforschen: Was hatten sie gemacht, als die Juden Nachbarn waren? Da wurde also eine Erinnerungsspur geschlagen, die unseren Eltern völlig fremd war, es ging hier auf einmal um die Kriegsverbrechen. Die meisten hatten das ja auch nicht in dem Maße gesehen. Die deutschen Kriegsverbrechen und der Holo-caust war eine Sache, an der zwei oder drei Millionen Deutsche beteiligt waren. Die Erinnerungen an Vertreibung, Vergewalti-gung und Bombadierung—alles, wo es also deutsche Kriegsopfer gab—blieb bei unge-fähr 40–50 Millionen Deutschen als ein per-sönliches Erlebnis im Kopf. Der Holocaust war für viele Deutsche, dessen Nachbarn vielleicht Juden gewesen sind, im Grunde eine Vertreibung. Da kamen Leute in den Zug und wurden abgeschleppt. Ihr Besitz wurde aufgeteilt, sie wurden bespuckt, beschimpft, aber sie fuhren in ein Nichts. Man hat Gerüchte gehört über Zyklon B und so weiter, aber das war jenseits der Erfah-rung. Für die elf Millionen Leute, die vertrieben wurden, waren das kleinteilige persönliche Erlebnisse. 30 Millionen Deut-sche erlebten die Bombardierung als handfestes Erlebnis. Was heute im Zusam-menhang mit dem Nationalsozialismus an allen Schulen und im Fernsehen, sowie in den Büchern breit debattiert wird, ist das Zentral-thema der deutschen Verbrechen. Handlungen, die sinnfällig von drei bis vier, maximal fünf Millionen Deutschen miterlebt worden waren. Das sind vielleicht 10% der Bevölkerung. Auf der einen Seite, was man hört und glauben kann, auf der anderen Seite, was man selbst erlebt hat. Es ist ein Kampf um die Erinnerungen und natürlich haben die unter-schiedlichen Generationen zu diesem Stoff ein unterschiedliches Verhältnis.
Was heißt das konkret?
Ich bin 1944 geboren und habe vom Dritten Reich so gut wie keine Erinnerungen. Manche waren vier oder fünf Jahre alt und haben eine fragmentarische Erinnerung. Die Leute, die jetzt 80 oder 90 Jahre alt sind, waren wirklich dabei. Die wissen was Bombenkrieg ist. Daraus ergibt sich in der Rekonstruktion der Vergangenheit eine Reibung zwischen denen, die darüber gelesen haben, die das rekonstruieren, und denen, die es miterlebten. Der Prozess der Rekonstruktion beißt sich oft mit den Erinnerungen, die sinnlich erfahren worden sind. Darum ist Erinnerung nicht linear, sondern eine Überwindung. Diese sinnlichen Erlebnisse prägen oft tiefer als alles, was man gelesen hat. Die waren von den Schrecken des Krieges so geprägt, dass sie verstummt sind. Sie wollten nur vor diesen Bildern im Kopf fliehen. Aber die Erinnerungen haben sie verfolgt wie die Furien.
Dann kamen wir, ihre Kinder. Wir haben atmosphärisch etwas mitbekommen. Das waren unsere ersten Erinnerungen im Leben. Es gibt also diejenigen, die stumm sind und traumatisch geprägt, und diejenigen, wie ich, die es als fernen Hintergrund noch halbwegs im Kopf haben, für die es aber als prägendes Erlebnis keine Rolle spielt.1968/69 begannen wir zu forschen. Wir wurden Lehrer und haben festgestellt, wie viele Juden in ihren Häusern lebten, wie die Deportationen abliefen, wer die Gemälde, die Möbel, die Kleidungsstücke bekommen hat. Ein Bildungserlebnis, das auch tief prägte.
Was halten Sie von den 68ern? Was haben sie zur deutschen Erinnerung beigetragen?
Ich bin ja selber ein 68er. Ich bin bei dieser Frage parteiisch. Es gibt viele Interpretationen: Was war der Motor, der diese Jugend in dieser Rebellion getrieben hat? Warum sind wir plötzlich so wild anti-amerikanisch gewesen? Die tragende Säule von 68 war, dass unsere amerikanischen Freunde gar nicht unsere Freunde gewesen sind. Man empfand sie als Bedrohung und eigentlich als Leute, die bekämpft werden mussten. Das war die Solidarität mit Vietnam, mit Kuba—eine Animosität gegen die Rolle der Ameri-kaner in der Welt.
Aber früher war das anders. Für das geteilte Deutschland galten die Siegermächte zuerst als die großen Beschützer. Man hatte im Westen Angst, dass die Russen kommen würden und überall den Kommunismus verbreiten. Dann wäre es uns im Ruhrgebiet genauso dreckig gegangen wie den Leuten in Leipzig oder in Dresden. Und die Einzigen, die uns beschützten, waren die Amerikaner, das waren unsere großen Freunde. Das sind unsere Vorbilder, die haben uns die Demo-kratie gebracht, und sie sind überhaupt in ihrem Recht und ihrer Vitalität eigentlich unsere Väter. Ich bin groß geworden mit John Wayne und Elvis Presley. Das war es, woran man sich orientierte. Das ist sehr merkwürdig, wenn man als junger Mensch seine Vorbilder nicht im eigenen Volk hat, sondern in einem anderen Volk, dem Sieger des Krieges. Unsere Väter hatten verloren. Insofern fehlte in den Familien etwas Elementares—es gab keinen Stolz auf den Vater.
Jeder 15-Jährige hat 1955 amerikanische Wildwest-Filme gesehen. Er las amerikanische Romane. Er trug Bluejeans und einen amerikanischen Haarschnitt. Man gab sich amerikanische Namen: Man sagte nicht Hans, das war dann Johnny. Man betete Amerika aufgrund seiner Kraft und Stärke an. Die waren unsere eigentlichen Väter, während unsere biologischen Väter die Loser waren.
Und jetzt kommt die Pointe. Fünf Jahre später, mit 19 oder 20 Jahren, drehte es sich um 180 Grad und man sagte, dass diese Amerikaner eigentlich die großen Feinde der Welt seien. Das ist eine eigenartige Geschichte. Es wird für meinen Geschmack zu wenig thematisiert, dass wir die Söhne von Geschlagenen waren, dass wir als Kinder von dieser Niederlage ein entscheidendes Erlebnis davontrugen, dass unsere Väter nicht die Herren im eigenen Haus waren. Die Atomwaffen, die hier stationiert waren, konnten durch die Bundesregierung nicht beeinflusst werden. Ob sie eingesetzt werden oder nicht, war eine rein amerikanische Angelegenheit. Wir haben plötzlich gemerkt, dass wir eigentlich nur Deputy Sheriffs waren. Willy Brandt bekommt von Präsident Johnson oder von Nixon gesagt, was er an bestimmten Dingen kritisieren darf oder nicht.
Aber das war doch gerecht so, oder? Wer den Krieg gewinnt, bestimmt auch die Moral.
Das spielt jetzt für meine Argumentation überhaupt keine Rolle. Ob gerecht oder ungerecht, man wird sich schwer einigen können. Es ist trotzdem ein ganz entscheidendes Erleb-nis, wenn man sieht, dass man ein Land erbt, welches unselbstständig ist, auf dem ein Fluch lastet. Ein Fluch in der moralischen Begut-achtung, als auch ein Knick in der politischen Rolle. Das ist für mich das zentrale, unaus-geprochene Thema von 68—wir sind die Söhne der Niederlage. Das erklärt den ungeheueren Antiamerikanismus. Gegen diese Kontrollmacht haben wir plötzlich eine regelrechte Wut entwickelt. Es gab ja großen Anlass, den Vietnam-Krieg oder die Kuba-Politik zu kritisieren, aber wir haben die Russen nicht kritisiert. Wir haben auch nicht die Chinesen kritisiert. Wir haben die Ostberliner Regierung nicht kritisiert. Wir hatten ein großes Maß an Verständnis für die schauerlichsten Diktaturen, ob das der Mao Tse-tung war, ob das der Pol Pot war, ob das die Vietnamesen waren, ob das der Fidel Castro war. All diese Schurken waren unsere Vorbilder. Wir haben sie auf Buttons getragen. Ich hatte ein Lenin-Bild in meinem Wohnzimmer hängen. Jeder ist rumgelaufen mit der Mao-Bibel, und niemandem ist ein-gefallen, darüber auch nur einen kritischen Satz zu sagen: über die Kulturrevolution in China zum Beispiel. Das war wunderbar! Alle Professoren mussten ins Bergwerk gehen – herrlich! Amerika hingegen, das ja im Vergleich zu den Chinesen ein Paradies der Freiheit war, haben wir nur beschimpft.
Das ist das Eigentümliche, was man zu 68 erklären muss. Unsere Väter waren nun nach dem Krieg versöhnt mit allen, bis auf die Russen natürlich. Wir waren ein Bestandteil der demokratischen Welt, und wir waren Freunde mit allen in der westlichen Welt. Wir haben das 1968 auf den Kopf gedreht. Die ganze westliche Welt war unser Feind und so wurden wir auf die Seite der Kommunisten getrieben. Das kann ich mir nur so erklären, als ein Syndrom von Leuten, die, von der Niederlage geprägt, versuchten, der Nieder-lage zu entgehen. Wir wollten dem Sieger ins Gesicht sagen: „Du bist kein moralischer Sieger, sondern eine autoritäre, eine gewalt-same und unterdrückende Macht.“ Das war ja das Neue. Plötzlich wurden die Ameri-kaner als Unterdrücker von uns ange-sprochen. Das war einfach eine Herausforderung, der Siegermacht zu sagen: „Ihr seid keine Sieger über uns. Ihr seid Sieger über die Faschisten gewesen. Aber wir sind keine Faschisten. Wir sind deutsche Söhne und haben mit den Verbrechen unserer Väter nicht im Mindesten etwas zu tun.“ Das war eine ungeheuere Zäsur in Deutschland, für das Verhältnis zwischen Deutschland und dem Rest der Welt.
Und das Antiautoritäre in uns meinte, dass hier eine Macht ausgeübt wurde, die nicht legitim ist. Das waren nicht unsere Väter und Professoren. Die hatten überhaupt keine Macht. Die eigentliche Autorität hatten die, die Macht über das Kapital hatten, und der Imperialismus. Das letzte Wort hatten in unseren Augen, auch bei den kleinsten Ange-legenheiten, die Amerikaner. Wer dreht Filme, und wer bestimmt die Presse? Es war in letzter Instanz immer ein Knecht der Ame-rikaner. Den Axel Springer haben wir natürlich als genau so einen Knecht der Ame-rikaner gesehen.
Für mich war die 68er Bewegung im Nachhinein betrachtet ein nationaler Aufruhr der Jugend eines geschlagenen Landes, die versucht für sich die Ketten dieser Niederlage abzustreifen. Und in diesem Zusammenhang interesssierten wir uns natür-lich für die Ursache dieser ganzen ver-fahrenen Situation. Wir haben uns von den Nazis distanziert. Wir haben uns als Ankläger, als eine Art Nürnberger Ankläger in der eigenen Familie, von der Geschichte der Geschlagenen emanzipiert. Wir sind innerlich auf die Seite der Sieger gewechselt. Jeder 20-Jährige war ein General Eisenhower oder Patton, der die Nazis im eigenen Wohn-zimmer schlägt und ihnen moralisch über-legen ist und ihnen Vorwürfe macht.
Und so entwickelte sich von 1968 an dieses ungeheuere Interesse am Nationalsozialismus. Ab Mitte der 70er wurde es zu einem dominierenden Thema und das hat uns die moralische Überlegenheit in Deutschland gegeben. Nicht unsere Väter waren die legitimen Gestalten, sondern wir, die Söhne, welche die Sünden der Väter an die Wand schrieben. Wir haben dieses Land von den Sündern freigemacht. Das haben wir uns 1968 eingebildet.
Jörg Friedrich erklärt die Deutschen
Jörg Friedrich ist einer der couragiertesten deutschen Schriftsteller und Historiker unserer Generation. Sein mutigstes Buch kam 2002 heraus und heißt Der Brand. Es beschreibt den alliierten Bombenangriff auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg—damit ist Friedrich einer der ersten Historiker, der die Deutschen als Kriegsopfer zeigt. Ein paar nervige Linksradikale meinten damals, dass Friedrich deshalb ein Nazi sein müsse. Er behauptet, er habe nichts anderes gemacht, als die dunklen Erinnerungen von fast 30 Millionen Menschen ans Licht zu bringen.
Read it in VICE
Vice: Was ist so speziell an der deutschen Auffassung der eigenen Geschichte?
Jörg Friedrich: Deutschland hat nie etwas so Diskontinuierliches erlebt wie das Ende des Krieges. Es prägte das ganze Leben der Überlebenden. Die Erinnerung wurde zudem taktisch gebremst. Die Bombenangriffe hingegen schnitten tief in die Identität der Deutschen ein, und die Debatten um die Innenstädte und deren Wiederaufbau haben gezeigt, was für Phantomschmerzen die Deutschen hatten. Man kann es förmlich in der Architektur der deutschen Städte sehen.
Wie funktioniert kollektive Erinnerung?
Die Erinnerung ist ein Auf und Ab. Ich bin 1944 geboren. Als ich zur Schule ging, war die Erinnerung an die Vertreibung und die Bombardierung höchstlebendig und spürbar vorhanden. An der Universität erlebte ich die 68er Bewegung und da sind diese Elemente völlig untergegangen. Zu der Zeit traten die Elemente der deutschen Kriegsverbrechen und des Holocausts in den Vordergrund. Als ich zehn oder zwölf Jahre war und ins Gym-nasium ging, war der Holocaust überhaupt kein Thema. Es war klar, die Deutschen ha-ben die Juden umgebracht, aber man stellte sich da keine weiteren Fragen. Das wurde plötzlich zum Zentralthema in den Jahren 1975–1980. Die Vertreibungsverbrechen in den deutschen Gebieten hingegen interes-sierten niemanden. Weder in meiner Studien-zeit, noch später, als ich mich mit den deutschen Kriegsverbrechen auseinander-setzte. Insofern ist Erinnerung eine Wellen-bewegung. Die Eltern hatten ihre Erinne-rungen zwar ganz dicht an der Oberfläche des Gehirns, übertrugen es aber nicht auf ihre Kinder. Die Kinder fingen also an, die Hintergründe ihrer Eltern zu erforschen: Was hatten sie gemacht, als die Juden Nachbarn waren? Da wurde also eine Erinnerungsspur geschlagen, die unseren Eltern völlig fremd war, es ging hier auf einmal um die Kriegsverbrechen. Die meisten hatten das ja auch nicht in dem Maße gesehen. Die deutschen Kriegsverbrechen und der Holo-caust war eine Sache, an der zwei oder drei Millionen Deutsche beteiligt waren. Die Erinnerungen an Vertreibung, Vergewalti-gung und Bombadierung—alles, wo es also deutsche Kriegsopfer gab—blieb bei unge-fähr 40–50 Millionen Deutschen als ein per-sönliches Erlebnis im Kopf. Der Holocaust war für viele Deutsche, dessen Nachbarn vielleicht Juden gewesen sind, im Grunde eine Vertreibung. Da kamen Leute in den Zug und wurden abgeschleppt. Ihr Besitz wurde aufgeteilt, sie wurden bespuckt, beschimpft, aber sie fuhren in ein Nichts. Man hat Gerüchte gehört über Zyklon B und so weiter, aber das war jenseits der Erfah-rung. Für die elf Millionen Leute, die vertrieben wurden, waren das kleinteilige persönliche Erlebnisse. 30 Millionen Deut-sche erlebten die Bombardierung als handfestes Erlebnis. Was heute im Zusam-menhang mit dem Nationalsozialismus an allen Schulen und im Fernsehen, sowie in den Büchern breit debattiert wird, ist das Zentral-thema der deutschen Verbrechen. Handlungen, die sinnfällig von drei bis vier, maximal fünf Millionen Deutschen miterlebt worden waren. Das sind vielleicht 10% der Bevölkerung. Auf der einen Seite, was man hört und glauben kann, auf der anderen Seite, was man selbst erlebt hat. Es ist ein Kampf um die Erinnerungen und natürlich haben die unter-schiedlichen Generationen zu diesem Stoff ein unterschiedliches Verhältnis.
Was heißt das konkret?
Ich bin 1944 geboren und habe vom Dritten Reich so gut wie keine Erinnerungen. Manche waren vier oder fünf Jahre alt und haben eine fragmentarische Erinnerung. Die Leute, die jetzt 80 oder 90 Jahre alt sind, waren wirklich dabei. Die wissen was Bombenkrieg ist. Daraus ergibt sich in der Rekonstruktion der Vergangenheit eine Reibung zwischen denen, die darüber gelesen haben, die das rekonstruieren, und denen, die es miterlebten. Der Prozess der Rekonstruktion beißt sich oft mit den Erinnerungen, die sinnlich erfahren worden sind. Darum ist Erinnerung nicht linear, sondern eine Überwindung. Diese sinnlichen Erlebnisse prägen oft tiefer als alles, was man gelesen hat. Die waren von den Schrecken des Krieges so geprägt, dass sie verstummt sind. Sie wollten nur vor diesen Bildern im Kopf fliehen. Aber die Erinnerungen haben sie verfolgt wie die Furien.
Dann kamen wir, ihre Kinder. Wir haben atmosphärisch etwas mitbekommen. Das waren unsere ersten Erinnerungen im Leben. Es gibt also diejenigen, die stumm sind und traumatisch geprägt, und diejenigen, wie ich, die es als fernen Hintergrund noch halbwegs im Kopf haben, für die es aber als prägendes Erlebnis keine Rolle spielt.1968/69 begannen wir zu forschen. Wir wurden Lehrer und haben festgestellt, wie viele Juden in ihren Häusern lebten, wie die Deportationen abliefen, wer die Gemälde, die Möbel, die Kleidungsstücke bekommen hat. Ein Bildungserlebnis, das auch tief prägte.
Was halten Sie von den 68ern? Was haben sie zur deutschen Erinnerung beigetragen?
Ich bin ja selber ein 68er. Ich bin bei dieser Frage parteiisch. Es gibt viele Interpretationen: Was war der Motor, der diese Jugend in dieser Rebellion getrieben hat? Warum sind wir plötzlich so wild anti-amerikanisch gewesen? Die tragende Säule von 68 war, dass unsere amerikanischen Freunde gar nicht unsere Freunde gewesen sind. Man empfand sie als Bedrohung und eigentlich als Leute, die bekämpft werden mussten. Das war die Solidarität mit Vietnam, mit Kuba—eine Animosität gegen die Rolle der Ameri-kaner in der Welt.
Aber früher war das anders. Für das geteilte Deutschland galten die Siegermächte zuerst als die großen Beschützer. Man hatte im Westen Angst, dass die Russen kommen würden und überall den Kommunismus verbreiten. Dann wäre es uns im Ruhrgebiet genauso dreckig gegangen wie den Leuten in Leipzig oder in Dresden. Und die Einzigen, die uns beschützten, waren die Amerikaner, das waren unsere großen Freunde. Das sind unsere Vorbilder, die haben uns die Demo-kratie gebracht, und sie sind überhaupt in ihrem Recht und ihrer Vitalität eigentlich unsere Väter. Ich bin groß geworden mit John Wayne und Elvis Presley. Das war es, woran man sich orientierte. Das ist sehr merkwürdig, wenn man als junger Mensch seine Vorbilder nicht im eigenen Volk hat, sondern in einem anderen Volk, dem Sieger des Krieges. Unsere Väter hatten verloren. Insofern fehlte in den Familien etwas Elementares—es gab keinen Stolz auf den Vater.
Jeder 15-Jährige hat 1955 amerikanische Wildwest-Filme gesehen. Er las amerikanische Romane. Er trug Bluejeans und einen amerikanischen Haarschnitt. Man gab sich amerikanische Namen: Man sagte nicht Hans, das war dann Johnny. Man betete Amerika aufgrund seiner Kraft und Stärke an. Die waren unsere eigentlichen Väter, während unsere biologischen Väter die Loser waren.
Und jetzt kommt die Pointe. Fünf Jahre später, mit 19 oder 20 Jahren, drehte es sich um 180 Grad und man sagte, dass diese Amerikaner eigentlich die großen Feinde der Welt seien. Das ist eine eigenartige Geschichte. Es wird für meinen Geschmack zu wenig thematisiert, dass wir die Söhne von Geschlagenen waren, dass wir als Kinder von dieser Niederlage ein entscheidendes Erlebnis davontrugen, dass unsere Väter nicht die Herren im eigenen Haus waren. Die Atomwaffen, die hier stationiert waren, konnten durch die Bundesregierung nicht beeinflusst werden. Ob sie eingesetzt werden oder nicht, war eine rein amerikanische Angelegenheit. Wir haben plötzlich gemerkt, dass wir eigentlich nur Deputy Sheriffs waren. Willy Brandt bekommt von Präsident Johnson oder von Nixon gesagt, was er an bestimmten Dingen kritisieren darf oder nicht.
Aber das war doch gerecht so, oder? Wer den Krieg gewinnt, bestimmt auch die Moral.
Das spielt jetzt für meine Argumentation überhaupt keine Rolle. Ob gerecht oder ungerecht, man wird sich schwer einigen können. Es ist trotzdem ein ganz entscheidendes Erleb-nis, wenn man sieht, dass man ein Land erbt, welches unselbstständig ist, auf dem ein Fluch lastet. Ein Fluch in der moralischen Begut-achtung, als auch ein Knick in der politischen Rolle. Das ist für mich das zentrale, unaus-geprochene Thema von 68—wir sind die Söhne der Niederlage. Das erklärt den ungeheueren Antiamerikanismus. Gegen diese Kontrollmacht haben wir plötzlich eine regelrechte Wut entwickelt. Es gab ja großen Anlass, den Vietnam-Krieg oder die Kuba-Politik zu kritisieren, aber wir haben die Russen nicht kritisiert. Wir haben auch nicht die Chinesen kritisiert. Wir haben die Ostberliner Regierung nicht kritisiert. Wir hatten ein großes Maß an Verständnis für die schauerlichsten Diktaturen, ob das der Mao Tse-tung war, ob das der Pol Pot war, ob das die Vietnamesen waren, ob das der Fidel Castro war. All diese Schurken waren unsere Vorbilder. Wir haben sie auf Buttons getragen. Ich hatte ein Lenin-Bild in meinem Wohnzimmer hängen. Jeder ist rumgelaufen mit der Mao-Bibel, und niemandem ist ein-gefallen, darüber auch nur einen kritischen Satz zu sagen: über die Kulturrevolution in China zum Beispiel. Das war wunderbar! Alle Professoren mussten ins Bergwerk gehen – herrlich! Amerika hingegen, das ja im Vergleich zu den Chinesen ein Paradies der Freiheit war, haben wir nur beschimpft.
Das ist das Eigentümliche, was man zu 68 erklären muss. Unsere Väter waren nun nach dem Krieg versöhnt mit allen, bis auf die Russen natürlich. Wir waren ein Bestandteil der demokratischen Welt, und wir waren Freunde mit allen in der westlichen Welt. Wir haben das 1968 auf den Kopf gedreht. Die ganze westliche Welt war unser Feind und so wurden wir auf die Seite der Kommunisten getrieben. Das kann ich mir nur so erklären, als ein Syndrom von Leuten, die, von der Niederlage geprägt, versuchten, der Nieder-lage zu entgehen. Wir wollten dem Sieger ins Gesicht sagen: „Du bist kein moralischer Sieger, sondern eine autoritäre, eine gewalt-same und unterdrückende Macht.“ Das war ja das Neue. Plötzlich wurden die Ameri-kaner als Unterdrücker von uns ange-sprochen. Das war einfach eine Herausforderung, der Siegermacht zu sagen: „Ihr seid keine Sieger über uns. Ihr seid Sieger über die Faschisten gewesen. Aber wir sind keine Faschisten. Wir sind deutsche Söhne und haben mit den Verbrechen unserer Väter nicht im Mindesten etwas zu tun.“ Das war eine ungeheuere Zäsur in Deutschland, für das Verhältnis zwischen Deutschland und dem Rest der Welt.
Und das Antiautoritäre in uns meinte, dass hier eine Macht ausgeübt wurde, die nicht legitim ist. Das waren nicht unsere Väter und Professoren. Die hatten überhaupt keine Macht. Die eigentliche Autorität hatten die, die Macht über das Kapital hatten, und der Imperialismus. Das letzte Wort hatten in unseren Augen, auch bei den kleinsten Ange-legenheiten, die Amerikaner. Wer dreht Filme, und wer bestimmt die Presse? Es war in letzter Instanz immer ein Knecht der Ame-rikaner. Den Axel Springer haben wir natürlich als genau so einen Knecht der Ame-rikaner gesehen.
Für mich war die 68er Bewegung im Nachhinein betrachtet ein nationaler Aufruhr der Jugend eines geschlagenen Landes, die versucht für sich die Ketten dieser Niederlage abzustreifen. Und in diesem Zusammenhang interesssierten wir uns natür-lich für die Ursache dieser ganzen ver-fahrenen Situation. Wir haben uns von den Nazis distanziert. Wir haben uns als Ankläger, als eine Art Nürnberger Ankläger in der eigenen Familie, von der Geschichte der Geschlagenen emanzipiert. Wir sind innerlich auf die Seite der Sieger gewechselt. Jeder 20-Jährige war ein General Eisenhower oder Patton, der die Nazis im eigenen Wohn-zimmer schlägt und ihnen moralisch über-legen ist und ihnen Vorwürfe macht.
Und so entwickelte sich von 1968 an dieses ungeheuere Interesse am Nationalsozialismus. Ab Mitte der 70er wurde es zu einem dominierenden Thema und das hat uns die moralische Überlegenheit in Deutschland gegeben. Nicht unsere Väter waren die legitimen Gestalten, sondern wir, die Söhne, welche die Sünden der Väter an die Wand schrieben. Wir haben dieses Land von den Sündern freigemacht. Das haben wir uns 1968 eingebildet.